|  |  |  | Manfred Allner Diplomlehrer und Autor 
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| Porträt | Zwei Nächte Wir schlenderten über die Tannenhegerbrücke, das Dessauer
  Blaue Wunder, in den Tiergarten hinein, über dem sich die Dämmerung
  auszubreiten begann. Nach enttäuschenden Jahren vergeblichen Suchens nach
  einem Neuanfang hatten wir uns vor einem halben Jahr kennengelernt. Seitdem
  trafen wir uns wechselweise ein um das andere Mal in den Orten, wo wir seit
  langem wohnten und lebten, erkundeten die Umgebung, gingen ins Theater, in
  Konzerte, Ausstellungen, tanzen und und und ... Unausgesprochen stand immer
  die Frage im Raum, wie es weitergehen sollte. Vielleicht sollten wir Lose ziehen, sagte Lisa. Oder eine Liste mit Für und Wider für jede Variante machen,
  erwiderte ich. Ach, sagte sie, pflückte eine Pusteblume und ließ mit dem
  Windhauch ihres Mundes die Fallschirmchen durch die Luft wirbeln, da kommt
  doch nur eine rechnerische Möglichkeit heraus. Du meinst, die emotionale Seite bleibt auf der Strecke? fragte
  ich und schaute ihren durch die Luft fliegenden Traumfängerchen hinterher. Lisa nickte. Hand in Hand, aber schweigend, gingen wir weiter. Nach einer halben Stunde erreichten wir das Vorfeld der
  Bogenbrücke, eine große Wiese. Schau mal, rief Lisa, wie schön die erleuchtete Silhouette der
  Stadt durch den Bogen zu sehen ist. So ähnlich, sagte ich, muss es vor siebzig Jahren ausgesehen
  haben – allerdings noch ohne Bogenbrücke. Mein Vater hat mir von jener Nacht
  erzählt, nach der die Stadt größtenteils in Trümmern lag. Ich begann zu
  schildern, was ich von ihm wusste: „Es war eine klare und kalte Märznacht des Jahres 1945. Ich
  schlief in meinem weichen, warmen Kinderbett. Plötzlich begannen die
  Sirenen schaurig zu heulen. Meine Mutter riss mich aus dem Bett. Sie zog mir
  schnell die Schuhe und den Mantel an. Wir stürzten die Treppe hinunter. Auf der Straße überall hastende Menschen. Ich blickte zum Himmel empor. Kalt lächelte der Mond und
  schaute mit seinem weißen Gesicht zu den eilenden Menschen herab. Die Sterne
  funkelten. Scheinwerfer sandten ihre weißen Strahlen gen Himmel. Ich bekam einen Stoß in den Rücken und lag am Boden. Eine Frau
  hatte mich mit ihrem Koffer umgeworfen. Meine Mutter schimpfte hinter ihr her
  und zog mich hoch. Ich weinte. Mutter riss mich mit. Sie herrschte mich an:
  Heul doch nicht! Gleich sind wir am Bunker! Wir hörten die Rufe der
  Bunkerwarte: Los, los, Tempo! Nicht drängeln! Nehmen Sie Rücksicht auf die
  Kinder! Kaum waren die Türen geschlossen, da krachte es. Das Licht
  begann zu flackern, dann erlosch es. Kinder weinten; Säuglinge schrien.
  Herzzerreißend. Eine Frau fluchte: Der verdammte Krieg! Lieber einmal
  trocken Brot essen. Viele sprachen damals so. Erst am frühen Morgen war der Angriff vorbei. Wir traten aus
  dem Bunker. Die Stadt brannte. Weißgraue Rauchschwaden trieb der heulende
  Wind vor sich her. Im Osten stieg blassgelb die Sonne auf. Laut hupend rasten
  Feuerwehrautos und Krankenwagen an uns vorbei. Wir rannten durch die Straße.
  Nach kurzer Zeit standen wir, heftig nach Luft ringend, vor unserem Haus.
  Grau und einsam stand es inmitten vieler Trümmer. Überglücklich drückte mich
  meine Mutter an sich. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ich sah alles wie
  durch einen Nebelschleier.“ Während ich die Erzählung meines Vaters wiedergegeben hatte,
  waren wir langsam zur Bogenbrücke gegangen, auf der wir jetzt standen.  Ich glaube, ich muss dir noch viel mehr von meiner Stadt
  zeigen, sagte ich. Dann mach mal, meinte Lisa. Das sagte sie immer, wenn sie
  ernsthaft wollte, dass ich etwas tue, was ich angekündigt hatte. Da fällt mir
  ein, fügte sie hinzu: Kannst du dich noch an das ältere Ehepaar erinnern, das
  wir vor vierzehn Tagen auf unserer Bogenbrücke beobachtet hatten, als wir
  nachsahen, ob unser Schloss noch an der Stelle hängt, wo wir es angebracht
  hatten? Ja, erwiderte ich. Und wie sie plötzlich zu singen begann:
  Wenn ich ein Vöglein wär … Und wie er mit seinem Brummbass einstimmte: … flög ich zu dir
  … Wir lächelten beide vor uns hin. Lisa nahm meine Hand. Langsam
  gingen wir über die Bogenbrücke und weiter in die Stadt hinein. Vom Rathausvorplatz hörten wir Musik; ein Duo sang das Lied,
  das wir von Cassandra Steen und Adel Tawil kannten: Ich bau 'ne Stadt für
  dich ... 
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